Cyber-Narzissmus

Dirk de Pol, 23. Januar 2020

Gesundheit, Leben, Mentale Gesundheit

Für den Narzissten ist das Internet eine verlockende und unwiderstehliche Kombination aus Spielplatz und Jagdrevier, der Sammelpunkt zahlreicher potentieller narzisstischer Versorgungsquellen, eine Welt, in der falsche Identitäten die Norm sind und der Verstand die Bon Tonne spielt. Und es ist jenseits der Reichweite des Gesetzes, der blassen sozialen Normen, der Strenge zivilisierten Verhaltens.

Der Somatiker findet Cyber-Sex und Cyber-Beziehungen im Überfluss. Das Gehirn behauptet falsche Errungenschaften, falsche Fähigkeiten, Gelehrsamkeit und Talente. Beide, wenn auch nur minimal kommunikativ, enden im augenblicklich erfreulichen Epizentrum eines Kultes von Fans, Anhängern, Stalkern, Erotomanen, Verunglimpfern und einfachen Verrückten. Die ständige Aufmerksamkeit und die damit einhergehende Quasi-Berühmtheit nähren und erhalten ihre grandiosen Fantasien und ihr aufgeblasenes Selbstbild.

Das Internet ist eine Erweiterung des realen narzisstisch-pathologischen Raums, aber ohne seine Risiken, Verletzungen und Enttäuschungen. Im virtuellen Universum des Web verschwindet der Narzisst und taucht mit Leichtigkeit wieder auf, wobei er oft eine Vielzahl von Pseudonymen und Spitznamen annimmt. So kann er (oder sie) Kritik, Missbrauch, Meinungsverschiedenheiten und Missbilligung effektiv und in Echtzeit abwehren – und gleichzeitig das prekäre Gleichgewicht seiner infantilen Persönlichkeit bewahren. Narzissten sind daher anfällig für Internet-Sucht.

Die positiven Eigenschaften des Netzes gehen dem Narzissten weitgehend verloren. Es geht ihm nicht darum, seinen Horizont zu erweitern, echte Beziehungen zu pflegen oder mit anderen Menschen in wirklichen Kontakt zu treten. Der Narzisst ist für immer der Provinzler, weil er alles durch die enge Linse seiner Sucht filtert. Er misst andere – und idealisiert oder entwertet sie – nach nur einem Kriterium: wie nützlich sie als narzisstische Versorgungsquelle sein könnten.

Das Internet ist ein egalitäres Medium, in dem die Menschen nach der Konsistenz und Qualität ihrer Beiträge und nicht nach dem Inhalt oder dem Bombast ihrer Ansprüche beurteilt werden. Aber der Narzisst wird durch das Fehlen einer klaren und allgemein akzeptierten Hierarchie (mit sich selbst an der Spitze) zu ablenkendem Unbehagen getrieben. Er versucht inbrünstig und aggressiv, die „natürliche Ordnung“ durchzusetzen – entweder indem er die Interaktion monopolisiert oder, falls dies scheitert, indem er zu einem großen Störfaktor wird.

Aber das Internet mag für viele Narzissten auch das Nächste sein, was der psychodynamischen Therapie am nächsten kommt. Da es immer noch weitgehend textbasiert ist, wird das Web von körperlosen Entitäten bevölkert. Durch die Interaktion mit diesen zeitweiligen, unberechenbaren, letztlich unbekannten, vergänglichen und ätherischen Stimmen ist der Narzisst gezwungen, seine eigenen Erfahrungen, Ängste, Hoffnungen und Vorurteile auf sie zu projizieren.

Übertragung (und Gegenübertragung) sind im Netz recht häufig, und die Abwehrmechanismen des Narzissten – vor allem Projektion und projektive Identifikation – werden häufig geweckt. Der therapeutische Prozess wird durch die – ungezügelte, unzensierte und brutal ehrliche – Reaktion auf das narzisstische Repertoire an Possen, Anmaßungen, Wahnvorstellungen und Fantasien in Gang gesetzt.

Der Narzisst – immer der einschüchternde Tyrann – ist an solchen Widerstand nicht gewöhnt. Anfangs kann er seine Paranoia verstärken und schärfen und dazu führen, dass er seine Großartigkeit ausgleicht, indem er sie ausdehnt und vertieft. Einige Narzissten ziehen sich ganz zurück und kehren in die schizoide Haltung zurück. Andere werden offen unsozial und versuchen, die Online-Quellen ihrer Frustration zu untergraben, zu sabotieren und zu zerstören. Einige wenige ziehen sich zurück und beschränken sich auf die Gesellschaft von anbetenden Kriechern und bedingungslosen Groupies.
Aber eine lange Auseinandersetzung mit der Kultur des Netzes – respektlos, skeptisch und populistisch – wirkt sich in der Regel selbst auf die standhaftesten und starrsten Narzissten positiv aus. Weit weniger überzeugt von seiner eigenen Überlegenheit und Unfehlbarkeit, wird der Online-Narzisst weicher und beginnt – zögerlich – anderen zuzuhören und mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Dieser Artikel handelt von einem Krankheitsbild oder gesundheitlichen oder medizinischen Thema und dient dabei jedoch nicht der Eigendiagnose. Der Beitrag ersetzt nicht eine Diagnose durch einen Arzt. Bitte lesen und beachten Sie auch unseren Hinweis zu Gesundheitsthemen!

DAS SPIEL, BEI DEM ALLES AUF DEN TISCH KOMMT …

… und nichts unterm Teppich bleibt.

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