„Etwas sollte der Feuersbrunst der Systeme und ihrer Asche entkommen.“
(Jean-François Lyotard)
Der Tod, seit Anbeginn der Menschheit als Zumutung empfunden, wird seit einigen Jahrzehnten grundlegender als jemals zuvor bekämpft. Im Transhumanismus bündeln sich dafür alle nur vorstellbaren Technologien. Der Posthumanismus denkt noch weiter.
In greifbarer Nähe, nämlich schon ab 2050, sieht der Biogenetiker Aubrey de Grey, dass wir dauerhaft in einem biologischen Alter von 30 Jahren leben könnten, und zwar immerhin bis zu 1000 Jahre lang. Doch das kann für Transhumanisten nicht die letzte Grenze sein. Sie gehen davon aus, dass wir mit Smart Drugs, Gentechnik und anderen Technologien den Prozess der Alterung stoppen, unseren Geist und Körper optimieren, letzteren wechseln und sogar in verschiedenen Formen und Verkörperungen immer wieder neu auferstehen können. Seelenwanderung und Reinkarnation kehren so in schillernden technologischen Gewändern wieder.
Alles bloß Science-Fiction oder nur Marketing-Versprechen eines boomenden Zweihundert-Milliarden-Dollar-Marktes? Anscheinend nicht ganz. Als Mensch-Maschine-Interface sind die Hirn-Implantate von Elon Musks Unternehmen Neuralink schon heute eine vielversprechende Basis der Erstellung einer digitalen Kopie unserer Persönlichkeit. Und auch Nanobots der nächsten Generation sollen bald so weit sein, unser Bewusstsein, unsere Gedanken und Gefühle scannen zu können, und zwar sogar ohne dass wir dafür aufgeschnitten werden müssten.
Noch authentischer und realistischer gestalten ließen sich die gewonnenen Persönlichkeitskopien durch zusätzliche Daten und Erkenntnisse, die sich mühelos aus unserem Verhalten und unseren Beiträgen in den diversen digitalen Kanälen gewinnen lassen.
Ob in einer Cloud, einer App oder biologischen oder technischen Lebensformen, ob mit oder ohne ununterbrochenem (Un-)Bewusstseinsstrom: wir könnten potenziell unendlich weiterleben und uns fast nach Belieben transformieren oder uns auch gleich mehrfach verkörpern. Es fragt sich nur, wer oder was wir dann eigentlich sind. Wir selbst oder ein anderes bzw. viele andere Wesen? Gelangt der Mensch im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit an sein Ende, und zwar als Übergang zu etwas Unabsehbaren? Welche Formen der Existenz und Unsterblichkeit könnten auf uns zukommen? Was bedeuten sie psychologisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich oder rechtlich für uns? Wer ist verantwortlich, wenn dabei etwas schief geht? Und wie werden die prognostizierten künstlichen Superintelligenzen mit uns umgehen?
Was sind die Grenzen einer solchen Welt bzw. welcher Natur könnte ihre Grenzenlosigkeit sein? Hat sie noch ein Außen, undenkbarer, unvorstellbarer oder erhabener als alles, was in ihr vorstellbar und existent sein könnte?
Was wird aus Liebe, Begehren und Freundschaft im Zeitalter potenziell vollkommen unterschiedlicher posthumaner Wesen, für die es keine Norm mehr gibt? Was werden deren Motivationen und akzeptierte rechtliche Rahmenbedingungen sein? Das sind Fragen, von deren Antworten wir noch sehr weit entfernt sind.
All den transhumanistischen Fabeln unerschöpflicher Seinsmöglichkeiten systematisch beikommen zu wollen, wäre angesichts der vielen Varianten und Überschneidungen ein eher redundantes Unterfangen. Wir sollten die wichtigsten Ursprünge und Visionen der Unsterblichkeit umkreisen und sie einer Feuerprobe unterziehen, um in ihrer Asche zu lesen, was sie nach dem bevorstehenden Brand der Systeme in der ersehnten Auferstehung tatsächlich für uns bereithalten könnten.