Mensch ohne Eigenschaften

Dirk de Pol, 8. Januar 2019

Kultur, Mentale Gesundheit

Wenn man einen Behälter mit weißen und schwarzen Kugeln willkürlich schüttelt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass alle weißen Kugeln oben und alle schwarzen unten sind, verschwindend gering. Wahrscheinlicher ist der Zustand ihrer völligen Unordnung. Den französischen Soziologen und Medientheoretiker Jean Baudrillard hat diese Tatsache stark beeindruckt. In Analogie zu einem solchen physikalischen System begreift er die Informationsgesellschaft. Wie das Schütteln die Kugeln bringe die totale Information alle Kennzeichen und Unterschiede der Gesellschaften und ihrer Individuen durcheinander. Durch diese Gleichverteilung, meint Baudrillard, heben sich die verschiedenen Eigenschaften auf. Er rechnet deshalb mit einem Schwinden kultureller und ethnischer Vielfalt. Aber das führe unweigerlich zu einem Verlust der Identität und Selbsthaß. Baudrillard zufolge kanalisiert er sich bald als Fremdenhaß. Er richte sich solange gegen die Reste des Fremden bis, wie bei einem physikalischen System, die “kritische Masse” der Informationsgesellschaft erreicht sei. In einem “Urknall der Information” soll sie ihr Ende finden. Ob das der Beginn einer neuen Welt ist, lässt Baudrillard offen. Offen bleibt allerdings nicht, dass er seine Gewißheit nur mit Hilfe physikalischer Metaphern erlangt, die eine unaufhaltsame Entwicklung der Informationsgesellschaft suggerieren. Tatsächlich ist sie – genau wie jeder historische Prozeß -, weder vorhersehbar noch kontrollierbar. Doch natürlich wird sie beeinflußt durch das Zusammenspiel aller Handlungen, Stellungnahmen und Unterlassungen. Baudrillards apokalyptische Prognose ist selbst nur einer der vielen Versuche, der Informationsgesellschaft eine bestimmte Richtung zu geben. Da sie uns mit Untergang bedrohe, will er ihren höchstpersönlich beschleunigen. Dazu dient seine These einer völligen Deformation durch die totale Information. Sie soll unsere latente Angst vor der Informationsgesellschaft in Haß verwandeln. Ist es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass solche Strategien nicht aufgehen?

Zuerst erschienen 1996  in  Der Tagesspiegel

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