Die Geschichte der Geschichte lehrt, dass sie eine geistige Konstruktion ist, die einem stetigen Wandel unterliegt. Geschichte ist immer auch die Geschichte der Sieger. Worin aber ist die permanente Revision der Geschichte über eigennützige Interessen hinaus begründet?
Sicherlich ist ein wichtiger Aspekt, dass sich Menschen, die Zugang zu Quellen, Informationen und Medien haben, in denen sie ihre daraus gezogenen Schlussfolgerungen darlegen können, gegen jene durchsetzen, denen diese Möglichkeit fehlt. Davon kann aber angesichts unserer Medien- und Internetkultur eigentlich schon lange keine Rede mehr sein. Denn historische und aktuelle Informationen demokratisieren sich immer mehr. Immer mehr des Gedächtnisses der Menschheit wird in irgendeiner Form auf externen Speichern gesichert. Alles digitalisiert sich, legal, illegal, wird geleakt und kann viral gehen mit atemberaubender Geschwindigkeit.
Doch genau damit kommen ganz neue Probleme auf uns zu. Denn wie soll in Zukunft aus dieser riesigen, täglich wachsenden Unmenge an Informationen und Erinnerungen Geschichte werden, wie wir sie noch aus unseren Schulbüchern kennen? Die Informationsflut, die uns die alten und neuen Medien bescheren, schreibt nicht nur Geschichte, sondern verwischt auch ihre Spuren. Keiner weiß heute, wie sich das auf die Baupläne für das Konstrukt der Geschichte auswirken wird. Wie können wir etwa sicher stellen, das wir auch künftig aus der Geschichte noch lernen, statt sie zum Sammelsurium trügerischer, da editierter Erinnerungen und Versionen zu machen? Und welche Authentizität werden wir überhaupt noch Quellen und Dokumenten zugestehen, die fast nur noch digital und damit hochgradig manipulierbar sind? Im Übermaß der Ereignisse und Informationen stechen zudem nur noch die großen Umbrüche, Auseinandersetzungen, Revolutionen und Kriege hervor.
Zuerst erschienen 1996 in Der Tagesspiegel