Kritik und Abwehr der Psychoanalyse

Dirk de Pol, 23. Januar 2020

Mentale Gesundheit

„Ich bin eigentlich gar kein Mann der Wissenschaft. . . . Ich bin nichts als ein Eroberer von Temperament, ein Abenteurer.“ (Sigmund Freud, Brief an Fleiss, 1900)

„Wenn ihr das hervorbringt, was in euch ist, wird das, was ihr hervorbringt, eure Rettung sein.“ (Das Thomas-Evangelium)

„Nein, unsere Wissenschaft ist keine Illusion. Aber eine Illusion wäre es, anzunehmen, dass das, was uns die Wissenschaft nicht geben kann, wir nicht anderswo bekommen können.“ (Sigmund Freud, „Die Zukunft einer Illusion“)

Harold Bloom nannte Freud „Die zentrale Imagination unserer Zeit“. Dass die Psychoanalyse keine wissenschaftliche Theorie im strengen, rigorosen Sinne des Wortes ist, ist längst etabliert. Dennoch beziehen sich die meisten Kritiken an Freuds Arbeit (von Leuten wie Karl Popper, Adolf Grunbaum, Havelock Ellis, Malcolm Macmillan und Frederick Crews) auf seinen – lange Zeit enttäuschten – wissenschaftlichen Anspruch.

Heute ist es weithin anerkannt, dass die Psychoanalyse – obwohl einige ihrer Lehren überprüfbar sind und tatsächlich experimentell getestet wurden und sich immer als falsch oder unbestätigt herausgestellt haben – ein System von Ideen ist. Sie ist ein kulturelles Konstrukt und eine (suggerierte) Dekonstruktion des menschlichen Geistes. Trotz gegenteiliger Bestrebungen ist die Psychoanalyse keine wertneutrale Physik oder Dynamik der Psyche – und war es auch nie.

Freud wird auch beschuldigt, seine eigenen Perversionen zu verallgemeinern und die Erinnerungsberichte seiner Patienten so umzudeuten, dass sie seinen vorgefassten Vorstellungen vom Unbewussten entsprechen. Die Praxis der Psychoanalyse als Therapie wird als eine grobe Form der Gehirnwäsche in kultischen Settings gegeißelt.

Feministinnen kritisieren Freud dafür, dass er Frauen in die Rolle von „defekten“ (natürlich kastrierten und minderwertigen) Männern versetzt. Kulturwissenschaftler legen die viktorianischen und bürgerlichen Wurzeln seiner Theorien über unterdrückte Sexualität offen. Historiker verspotten und verunglimpfen seinen erstickenden Autoritarismus und die häufigen und zweckmäßigen konzeptuellen Umkehrungen.

Freud selbst hätte viele dieser Hetzreden auf die Verteidigungsmechanismen seiner Kritiker zurückgeführt. Projektion, Widerstand und Verdrängung scheinen eine herausragende Rolle zu spielen. Psychologen werden durch die mangelnde Strenge ihres Berufes, durch seine literarischen und künstlerischen Qualitäten, durch den Mangel an empirischer Unterstützung für seine Behauptungen und Grundlagen, durch die Mehrdeutigkeit seiner Terminologie und Ontologie, durch den Spott „richtiger“ Wissenschaftler in den „harten“ Disziplinen und durch die Beschränkungen, die ihnen von ihren experimentellen Subjekten (Menschen) auferlegt werden, verspottet. Das sind genau die Mängel, die sie der Psychoanalyse zuschreiben.

In der Tat sind psychologische Narrative – in erster Linie die Psychoanalyse – keineswegs „wissenschaftliche Theorien“ in diesem vielbeschworenen Sinne. Es ist auch unwahrscheinlich, dass sie jemals zu solchen werden. Stattdessen sind sie – wie Mythen, Religionen und Ideologien – organisierende Prinzipien.

Psychologische „Theorien“ erklären nicht die Welt. Sie beschreiben allenfalls die Wirklichkeit und geben ihr „wahre“, emotional-resonante, heuristische und hermeneutische Bedeutung. Es geht ihnen weniger um vorhersagende Leistungen als um „Heilung“ – die Wiederherstellung der Harmonie unter den Menschen und in ihrem Inneren.

Therapien – die praktischen Anwendungen psychologischer „Theorien“ – befassen sich mehr mit Funktion, Ordnung, Form und Ritual als mit Essenz und reproduzierbarer Leistung. Die Interaktion zwischen Patient und Therapeut ist ein Mikrokosmos der Gesellschaft, eine Einkapselung und Verdinglichung aller anderen Formen des gesellschaftlichen Umgangs. Zugegeben, sie ist strukturierter und stützt sich auf ein Wissen, das aus Millionen von ähnlichen Begegnungen gewonnen wurde. Dennoch ist der therapeutische Prozess nichts anderes als ein aufschlussreicher und informierter Dialog, dessen Nutzen gut belegt ist.

Sowohl psychologische als auch wissenschaftliche Theorien sind Geschöpfe ihrer Zeit, Kinder der Zivilisationen und Gesellschaften, in denen sie konzipiert wurden, kontextabhängig und kulturgebunden. Als solche sind ihre Gültigkeit und Langlebigkeit immer verdächtig. Sowohl hartgesottene Wissenschaftler als auch Denker in den „weicheren“ Disziplinen werden von zeitgenössischen Werten, Sitten, Ereignissen und Interpellationen beeinflusst.

Der Unterschied zwischen „richtigen“ Theorien der Dynamik und psychodynamischen Theorien besteht darin, dass erstere asymptotisch nach einer objektiven „Wahrheit“ „da draußen“ streben – während letztere aus einem Kern innerer, introspektiver, unmittelbar vertrauter Wahrheit hervorgehen und aus ihr hervorgehen, die das Fundament ihrer Spekulationen ist. Wissenschaftliche Theorien – im Gegensatz zu psychologischen „Theorien“ – müssen daher geprüft, verfälscht und modifiziert werden, weil ihre Wahrheit nicht in sich geschlossen ist.

Dennoch war die Psychoanalyse, wenn sie ausgearbeitet wurde, ein kuhnianischer Paradigmenwechsel. Sie brach vollständig und dramatisch mit der Vergangenheit. Sie erzeugte eine übermäßige Menge neuer, ungelöster Probleme. Sie schlug neue methodische Vorgehensweisen zur Erhebung empirischer Evidenz (Forschungsstrategien) vor. Sie basierte auf Beobachtungen (wie auch immer spärlich und verzerrt). Mit anderen Worten, sie war experimenteller und nicht nur theoretischer Natur. Sie lieferte einen Bezugsrahmen, einen konzeptuellen Bereich, in dem sich neue Ideen entwickelten.

Dass es ihr nicht gelungen ist, eine Fülle von überprüfbaren Hypothesen zu generieren und Entdeckungen in der Neurologie zu berücksichtigen, schmälert nicht ihre Bedeutung. Beide Relativitätstheorien waren und sind heute, bezogen auf ihren Gegenstand, in genau der gleichen Position, nämlich der Physik.

Karl Jaspers hat 1963 eine wichtige Unterscheidung zwischen den wissenschaftlichen Aktivitäten von Erklaren und Verstehen getroffen. Bei Erklaren geht es darum, Ursachen- und Wirkungspaare zu finden. Beim Verstehen geht es darum, Zusammenhänge zwischen Ereignissen zu erfassen, manchmal intuitiv und nicht kausal. In der Psychoanalyse geht es um Verstehen, nicht ums Erklaren. Sie ist eine hypothetisch-deduktive Methode, um Ereignisse im Leben eines Menschen zu erfassen und Einsichten über deren Zusammenhang mit seiner aktuellen Befindlichkeit und Funktionsweise zu generieren.

Ist die Psychoanalyse also eine Wissenschaft, Pseudowissenschaft oder sui generis?

Die Psychoanalyse ist ein Studiengebiet, keine Theorie. Sie ist voll von Neologismen und Formalismus, aber wie die Quantenmechanik hat sie viele inkompatible Interpretationen. Sie ist daher mehrdeutig und in sich geschlossen (rekursiv). Die Psychoanalyse diktiert, welche ihrer Hypothesen prüfbar sind und was ihre eigene Verfälschung darstellt. Mit anderen Worten, sie ist eine Meta-Theorie: eine Theorie über die Generierung von Theorien in der Psychologie.

Darüber hinaus wird die Theorie der Psychoanalyse oft mit der Psychoanalyse der Therapie verwechselt. Der schlüssige Beweis, dass die Therapie funktioniert, stellt nicht die Wahrhaftigkeit, die Historizität oder gar die Nützlichkeit des konzeptuellen Gebäudes der Theorie fest. Außerdem entwickeln sich therapeutische Techniken viel schneller und substanzieller als die Theorien, die sie angeblich hervorbringen. Sie sind selbstmodifizierende „moving targets“ – keine starren und reproduzierbaren Verfahren und Rituale.

Ein weiteres Hindernis bei dem Versuch, den wissenschaftlichen Wert der Psychoanalyse festzustellen, ist ihre Mehrdeutigkeit. So ist z.B. unklar, was in der Psychoanalyse als Ursachen – und was als deren Auswirkungen – gelten.

Betrachten wir das kritische Konstrukt des Unbewussten. Ist es der Grund für unser Verhalten, unsere bewussten Gedanken und Emotionen – verursacht es sie? Liefert es ihnen eine „Ratio“ (Erklärung)? Oder sind sie nur Symptome unaufhaltsamer zugrunde liegender Prozesse? Selbst diese grundlegenden Fragen werden in der klassischen (Freud’schen) psychoanalytischen Theorie nicht „dynamisch“ oder „physisch“ behandelt. Soviel zu ihrem Anspruch, ein wissenschaftliches Unterfangen zu sein.

Die Psychoanalyse ist umständlich und wird durch epistemische Darstellungen unterstützt, beginnend mit dem Meister selbst. Sie appelliert an den gesunden Menschenverstand und an die eigene Erfahrung. Ihre Aussagen beziehen sich auf diese Formen: „bei X, Y und Z, die der Patient berichtet – steht es nicht zur (alltäglichen) Vernunft, dass A X verursacht hat?“ oder „Wir wissen, dass B M verursacht, dass M X sehr ähnlich ist, und dass B A sehr ähnlich ist.

In der Therapie bestätigt der Patient später diese Einsichten, indem er das Gefühl hat, dass sie „richtig“ und „korrekt“ sind, dass sie epiphanisch und offenherzig sind, dass sie retrodiktive und prädiktive Kräfte besitzen, und indem er dem Therapeuten/Dolmetscher seine Reaktionen meldet. Diese Akklamation besiegelt den Beweiswert der Erzählung als eine grundlegende (um nicht zu sagen primitive) Form der Erklärung, die einen Zeitrahmen, ein zufälliges Muster und eine Reihe von teleologischen Zielen, Ideen und Werten liefert.

Juan Rivera hat Recht, dass Freuds Behauptungen über das kindliche Leben nicht bewiesen werden können, nicht einmal mit einer Gedankenexperimental-Filmkamera, wie Robert Vaelder vorschlug. Es ist ebenso wahr, dass die ätiologischen Behauptungen der Theorie epidemiologisch unüberprüfbar sind, wie Grunbaum immer wieder sagt. Aber diese Versäumnisse verfehlen den Sinn und das Ziel der Psychoanalyse: eine organisierende und umfassende, nicht tendenziöse und überzeugende Erzählung der menschlichen psychischen Entwicklung zu liefern.

Sollte eine solche Erzählung prüfbar und falsifizierbar sein oder aber verworfen werden (wie die Logischen Positivisten darauf bestehen)?

Kommt darauf an, ob wir sie als Wissenschaft oder als Kunstform behandeln wollen. Das ist die Zirkularität der Argumente gegen die Psychoanalyse. Wenn Freuds Werk als das moderne Äquivalent zu Mythos, Religion oder Literatur angesehen wird – muss es nicht geprüft werden, um als „wahr“ im tiefsten Sinne des Wortes zu gelten. Denn wie viel von der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts hat überhaupt bis heute überlebt?

Dieser Artikel handelt von einem Krankheitsbild oder gesundheitlichen oder medizinischen Thema und dient dabei jedoch nicht der Eigendiagnose. Der Beitrag ersetzt nicht eine Diagnose durch einen Arzt. Bitte lesen und beachten Sie auch unseren Hinweis zu Gesundheitsthemen!

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