Die Pathologie der Liebe

Dirk de Pol, 24. Januar 2020

Mentale Gesundheit

Neuere Studien untermauern die unangenehme Wahrheit, dass Verlieben in gewisser Weise nicht von einer schweren Pathologie zu unterscheiden ist. Verhaltensänderungen erinnern an eine Psychose, und biochemisch gesehen ahmt die leidenschaftliche Liebe den Drogenmissbrauch genau nach. Mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) konnte gezeigt werden, dass beim Drogenmissbrauch und in der Liebe die gleichen Hirnregionen aktiv sind. Der präfrontale Kortex – hyperaktiv bei depressiven Patienten – ist inaktiv, wenn er betört ist. Wie sich dies mit den niedrigen Serotoninwerten vereinbaren lässt, die das verräterische Zeichen für Depressionen und Verliebtheit sind, ist nicht bekannt.

Der anfängliche Antrieb – die Lust – wird durch einen Anstieg der Sexualhormone wie Testosteron und Östrogen ausgelöst. Diese induzieren ein wahlloses Gerangel um körperliche Befriedigung. Anziehung entsteht, wenn ein mehr oder weniger geeignetes Objekt gefunden wird (mit der richtigen Körpersprache, Geschwindigkeit und Tonfall), und ist an eine Reihe von Schlaf- und Essstörungen gebunden.

Eine kürzlich an der Universität von Chicago durchgeführte Studie hat gezeigt, dass der Testosteronspiegel selbst bei einem lockeren Gespräch mit einer fremden Frau um ein Drittel ansteigt. Je stärker die hormonelle Reaktion, desto ausgeprägter sind die Verhaltensänderungen, folgerten die Autoren. Diese Schleife könnte Teil einer größeren „Paarungsreaktion“ sein. Bei Tieren provoziert Testosteron Aggression und Rücksichtslosigkeit. Die Werte des Hormons sind bei verheirateten Männern und Vätern deutlich niedriger als bei alleinstehenden Männern, die noch „auf dem Spielfeld“ sind.

Helen Fisher von der Rutger-Universität schlägt ein Drei-Phasen-Modell des Verliebtseins vor. Jede Phase beinhaltet eine bestimmte Menge an Chemikalien. Die BBC fasste es kurz und bündig zusammen: „Ereignisse, die im Gehirn ablaufen, wenn wir verliebt sind, haben Ähnlichkeiten mit psychischen Erkrankungen“.

Außerdem fühlen wir uns zu Menschen mit der gleichen genetischen Ausstattung und dem gleichen Geruch (Pheromone) unserer Eltern hingezogen. Dr. Martha McClintock von der Universität Chicago untersuchte die weibliche Anziehungskraft auf verschwitzte T-Shirts, die früher von Männern getragen wurden. Je mehr der Geruch dem ihres Vaters ähnelte, desto mehr wurde die Frau angezogen und erregt. Verlieben ist daher eine Übung in Stellvertreterinzest und eine Rechtfertigung für Freuds viel geschmähten Ödipus- und Elektra-Komplex.

In der Februar-Ausgabe 2004 der Zeitschrift NeuroImage beschrieb Andreas Bartels vom Wellcome Department of Imaging Neuroscience des University College London identische Reaktionen in den Gehirnen junger Mütter, die ihre Babys anschauen, und in den Gehirnen von Menschen, die ihre Liebhaber anschauen.

„Sowohl die romantische als auch die mütterliche Liebe sind höchst lohnende Erfahrungen, die mit dem Fortbestand der Spezies verbunden sind und folglich eine eng verbundene biologische Funktion von entscheidender evolutionärer Bedeutung haben“ – sagte er gegenüber Reuters.

Dieser inzestuöse Hintergrund der Liebe wurde vom Psychologen David Perrett von der Universität St. Andrews in Schottland weiter aufgezeigt. Die Versuchspersonen in seinen Experimenten bevorzugten ihr eigenes Gesicht – mit anderen Worten, die Mischung ihrer beiden Eltern -, wenn sie am Computer in das andere Geschlecht verwandelt wurden.

Im Gegensatz zu den vorherrschenden Missverständnissen geht es bei der Liebe meist um negative Emotionen. Wie Professor Arthur Aron von der State University of New York in Stonybrook gezeigt hat, interpretieren Menschen in den ersten Begegnungen bestimmte körperliche Hinweise und Gefühle – insbesondere Angst und Erregung – fälschlicherweise als (Ver-)Liebe. Daher sind ängstliche Menschen – insbesondere solche mit dem „Serotonin-Transporter“-Gen – kontraintuitiv stärker sexuell aktiv (d.h. sie verlieben sich häufiger).

Besessene Gedanken über den Geliebten und zwanghafte Handlungen sind ebenfalls häufig. Die Wahrnehmung ist ebenso verzerrt wie die Kognition. „Liebe ist blind“, und der Liebende fällt leicht durch den Realitätstest. Das Verlieben beinhaltet die verstärkte Ausschüttung von b-Phenylethylamin (PEA, oder die „Liebeschemikalie“) in den ersten 2 bis 4 Jahren der Beziehung.

Diese natürliche Droge erzeugt ein euphorisches Hoch und hilft, die Schwächen und Unzulänglichkeiten der potenziellen Partnerin zu verdecken. Ein solches Vergessen – nur die guten Seiten des Ehepartners wahrzunehmen, während die schlechten verworfen werden – ist eine Pathologie, die dem primitiven psychologischen Abwehrmechanismus, der als „Spaltung“ bekannt ist, ähnelt. Narzissten – Patienten, die an der narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden – idealisieren auch romantische oder intime Partner. Eine ähnliche kognitiv-emotionale Beeinträchtigung ist bei vielen psychischen Erkrankungen üblich.

Die Aktivität einer Reihe von Neurotransmittern – wie Dopamin, Adrenalin (Noradrenalin) und Serotonin – ist in beiden Paramouren erhöht (oder im Falle von Serotonin gesenkt). Solche Unregelmäßigkeiten sind jedoch auch mit Zwangsstörungen (OCD) und Depressionen verbunden.

Es ist bezeichnend, dass sich die Werte dieser Substanzen wieder normalisieren, sobald sich eine Bindung bildet und die Verliebtheit in eine stabilere und weniger ausgelassene Beziehung übergeht. Sie werden durch Hormone (Endorphine) ersetzt, die normalerweise bei sozialen Interaktionen (einschließlich Bindung und Sex) eine Rolle spielen – z.B. Oxytocin (die „Kuschelchemikalie“). Oxytocin erleichtert die Bindung. Es wird bei der Mutter während des Stillens, bei den Mitgliedern des Paares, wenn sie Zeit miteinander verbringen – und beim sexuellen Höhepunkt – freigesetzt.

Die Liebe in all ihren Phasen und Erscheinungsformen ist eine Sucht, wahrscheinlich nach den verschiedenen Formen von innerlich abgesondertem Noradrenalin, wie dem bereits erwähnten amphetaminähnlichen PEA. Mit anderen Worten: Liebe ist eine Form des Drogenmissbrauchs. Der Entzug der romantischen Liebe hat schwerwiegende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit.

Eine von Dr. Kenneth Kendler, Professor für Psychiatrie und Direktor des Virginia Institute for Psychiatric and Behavioral Genetics, und anderen durchgeführte Studie, die in der September-Ausgabe der Archives of General Psychiatry veröffentlicht wurde, ergab, dass Trennungen oft zu Depressionen und Angstzuständen führen.

Dennoch lässt sich die Liebe nicht auf ihre biochemischen und elektrischen Komponenten reduzieren. Liebe ist nicht gleichbedeutend mit unseren körperlichen Prozessen – vielmehr ist es die Art und Weise, wie wir sie erleben. Liebe ist die Art und Weise, wie wir diese Ströme und das Ebbe von Verbindungen mit Hilfe einer übergeordneten Sprache interpretieren. Mit anderen Worten: Liebe ist reine Poesie.

Dieser Artikel handelt von einem Krankheitsbild oder gesundheitlichen oder medizinischen Thema und dient dabei jedoch nicht der Eigendiagnose. Der Beitrag ersetzt nicht eine Diagnose durch einen Arzt. Bitte lesen und beachten Sie auch unseren Hinweis zu Gesundheitsthemen!

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