Die Öffentlichkeit in Habermas´ „Theorie des kommunikativen Handelns“

Dirk de Pol, 8. Januar 2018

Kultur, Mentale Gesundheit

Jürgen Habermas hat mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns den umfassen­den Versuch vorgelegt, Lösungsstrategien für das Problem unter Kooperationszwängen stehender Gesellschaften aufzuzeigen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Vorstellung einer idealen Diskursgemein­schaft, durch die eine nicht instrumentelle, sondern verständigungs- und konsen­sorientierte Rationalität vollzogen werden soll. „Die öffentliche, uneinge­schränkte und herrschaftsfreie Diskussion über die Angemessenheit und Wünschbarkeit von … Normen im Lichte der soziokulturellen Rückwirkungen von fortschreitenden Sub-Systemen zweckrationalen Handelns – eine Kommuni­kation dieser Art auf allen Ebenen der politischen und der wieder politisch ge­machten Willensbildungsprozesse ist das einzige Medium, in dem so etwas wie `Rationa­lisierung‘ möglich ist“.1 Dieser Legitimationsmodus soll die Alternative zu den in den komplexen Gesellschaften unglaubwürdig gewordenen Ideologien sein. Die Demokratisierung aller für die Gesamtgesell­schaft folgenreichen Entscheidungsprozesse soll an „die Stelle von Legitimation im Sinne scheinhafter Rechtfertigung treten und erlauben …, die legitime Geltung beanspruchenden Handlungsnormen beim Wort zu nehmen, um sie dis­kursiv einzulösen oder abzuweisen“.2 Damit präzisiert Habermas den alten To­pos der Kritischen Theorie, demzufolge die totale Vergesellschaftung die ihr zu­grundeliegenden traditionellen Legitimationen und damit ihre Basis untergrabe. Mit der Unterscheidung von Technik bzw. System und Praxis bzw. Lebenswelt will Habermas die Gesellschaftskritik der älteren Kritischen Theorie mit einer Krisentheorie verbinden, die die desillusionierende Seite der Kritischen Theorie aufheben soll.

Zentral für Habermas Ansatz ist die Ablösung des Paradigmas der Erkenntnis von Gegenständen durch das der Verständigung zwischen sprach- und hand­lungs­fähigen Menschen. Durch dieses Medium einer vermittelnden Interaktion ist für Habermas eine Alternative zum Grundübel der Moderne geboten, dem objek­tivierenden Zugriff, durch den sich Individuen selbst als Objekte begreifen. Da­gegen macht er die Verständigung von Sprechenden und Handelnden stark, die sich nicht mehr objektivierend sondern nachvollziehend aufeinander beziehen. Sie bewegen sich im Horizont einer teils geteilten, teils intuitiv zugänglichen, teils erfahrbaren und theoretisierbaren Lebenswelt. Idealtypisch ist die Reproduktion der Lebenswelt durch das Medium verstän­digungs­orien­tier­ten Handelns, wenn drei „überschreitende Funktionen erfüllt werden: Fortsetzung kultureller Überlieferung, die Integration von Gruppen über Normen und Werte und die Sozialisation nachwachsender Generationen“.3 Diese Funktionen sind nach Habermas zugleich die allgemeinen Eigenschaften kommunikativ strukturierter Lebenswelten. Diesen Begriff der Lebenswelt will Habermas mit einem neuen Konzept selbstgesteuerter Gesellschaftssysteme zu einem zweistufigen Gesellschaftsbegriff verschmelzen. Im Idealfall ist die Ge­sellschaft zugleich Ort und Träger der kommunikativen Praxis, die sich in der ge­schichtlichen Zeit vollzieht, und die „die subjektive Natur der bedürftigen Indivi­duen mit einer in der Arbeit objektivierten Natur innerhalb des Horizonts der umgebenden kosmischen Natur“ vermittelt.4 Das Gelingen dieser Praxis hängt ab „vom Grad der Entzweiungen und der Versöhnlichkeit des gesellschaftlich in­stitutionalisierten Lebenszusammenhanges“.5 Geht man wie Habermas von einem Entzweiungsmodell der Vernunft aus, das die solidarische, gesellschaftliche Praxis als einen Ort bezeichnet, „an dem die Fäden von äußerer Natur, innerer Natur und Gesellschaft zusammenlaufen“6, so wird die Dringlichkeit deutlich mit der er den die Entzweiungen voran­treibenden Zugriff einsamer, selbstbewusster Menschen durch die intersubjektive Beziehung kommunikativ vergesellschafteter und sich gegenseitig anerkennender Individuen ersetzt sehen will.

Habermas setzt auf eine bestimmte Tradition der Kritik des abend­ländischen Logos. „Sie begreift intersubjektive Verständigung als das der um­gangs­sprach­lichen Kommunikation eingeschriebene Teleos und den bewusst­seinsphilosophisch zugespitzten Logozentrismus … als systematische Verkürzung und Verzerrung eines … selektiv ausgeschöpften Potentials. So­lange das okzi­dentale Selbst­verständnis den Menschen in seinem Verhältnis zur Welt ausge­zeichnet sieht durch das Monopol, … Gegenstände zu erkennen und zu behan­deln, wahre Aussagen zu machen und Absichten zu verwirklichen, bleibt die Vernunft … auf nur eine ihrer Dimensionen eingeschränkt … und zwar ontolo­gisch auf die Welt des Seienden im ganzen …; erkenntnis­theoretisch auf das Vermögen, existierende Sachverhalte zu erkennen oder zweckrational herbeizu­führen; und semantisch auf die tatsachenfeststellende Rede … in der kein Gel­tungsanspruch außer dem der … verfügbaren propositionalen Wahrheit zu gelas­sen ist“.7 Habermas bringt dagegen in Anschluss  an seinen Begriff der Lebens­welt einen anderen Begriff von Welt an, auf die sich ein Sprecher mit Sätzen oder Vorstellungen bezieht. Bislang wurde darunter die Gesamtheit von Gegenständen und Sachverhalten gefasst. Normative Vorstellungen und subjektive Wahrheitsan­sprüche müssen aber auch als Geltungsansprüche begriffen werden; so nimmt er für intersubjektive Beziehungen und subjektive Erlebnisse tatsachenanaloge Welten an. Mit jedem Sprechakt bezieht sich der Sprecher auf etwas in der ob­jektiven, in einer gemeinsamen, sozialen und in seiner subjektiven Welt. Mit die­ser Wendung verändert sich dann auch der Begriff der Rationalität. Sie bemisst sich nicht mehr daran, wie der Einzelne sich an Aussagen, Vorstellungen und Sachverhalte an der objektiven Welt orientiert, sondern an der Fähigkeit der Handelnden, ihre Geltungsansprüche auf eine intersubjektive Gültigkeit anzule­gen. Das monologische oder monadische Prinzip, durch das erst die Objektivie­rung möglich ist, wird damit verlassen. Diese prozesshaft verstandene Rationalität ist gerade durch Einbeziehen der Diskussion der Ansprüche auf propositionale Wahrheit, normative Richtigkeit, subjektive Wahrhaftigkeit und ästhetische Stimmigkeit reicher als „die aufs Kognitive-Instrumentelle zugeschnittene Zweckrationalität“.8

Ihre Verzerrung erfährt die verständigungsorientierte Kommunikation, die nach Habermas schon immer in den gesellschaftlichen Lebensprozess eingeflochten ist, da­durch dass sie zweckrationalen Prinzipien unterstellt wird. Zwar will Habermas mit seiner Theorie die gleiche Aufgabe angehen, wie die an Marx anknüpfende Praxis­philosophie, doch sei der Ansatz des Historischen Materialismus nicht zu­reichend, denn er rechnet lediglich mit einem dialektischen Zusammenhang von Weltbildstrukturen, die die gesellschaftliche Praxis ermöglichen, und Lernpro­zessen, die sich im Wandel der Weltbildstrukturen niederschlagen. Das Medium dieser Lernprozesse wird dabei durch die produktivistische Orientierung des Historischen Materialismus verkannt: praktische Erfahrungen kulminieren nur in der Entfaltung der Produktivkräfte, also in der Totalisierung der Zweckrationalität. Durch die Umstellung des Praxisbegriffs von der Arbeit auf das kommunikative Handeln sollen sich dann die Abhängigkeiten zwischen den welterschließenden Sprach­systemen und den gesellschaftlichen Lernsystemen er­kennen lassen. Somit wäre die missliche Konsequenz des Histori­schen Materialismus vermieden, Lernprozesse durch einen kognitiv-instrumen­tellen Umgang mit der objektivierten Natur zu kanalisieren. Die Verabschiedung des Produktivismus würde sprachtheoretisch zugleich die Aufhebung der Be­schränkung sprachlicher Ausdrücke allein auf intentionale und assertorische Sätze sowie die Öffnung zur Diskussion von Richtigkeits- und Wahrheitsansprü­chen bedeuten. Habermas geht es hierbei gerade nicht um den Ausschluss, son­dern um den Anschluss der in der Sphäre gesellschaftlicher Arbeit gewonnenen Problemlösungsstrategien an das Medium des verständigungsorientierten Han­delns. Seine Theorie rechnet damit, dass „die symbolische Reproduktion der Le­benswelt intern mit deren materieller Reproduktion rückgekoppelt ist“.9 Er be­denkt also die Möglichkeiten, die in einer fortschreitenden Vernetzung auch der bisher allein kognitiv-instru­mentell gelenkten Bereiche mit Entscheidungsprozes­sen und Formen der Reproduktion, die sich an einer intersubjektiven Verständi­gung orientieren, liegen. In einer solchen Situation abgebauter hierachischer Ent­scheidungs- und Machtstrukturen kommt den individuellen Stellung­nahmen zu nicht diskutierten apodiktischen Geltungsansprüchen herkömmlicher Entscheidungsträger eine Schlüs­selfunktion für eine umfassendere Alltagspraxis zu, die auf eine Verbindung mit anderen sozialen Interaktionen und lebenswelt­lichen Kontexten angelegt ist. Die prinzipielle Hinterfragbarkeit von Geltungsan­sprü­chen, dass sie praktisch nur durch einen Kompromiss auf eine für alle akzep­tierbare Ebene gebracht werden können, ist darin begründet, dass sie einerseits je­den lokalen Kontext transzendieren können, andererseits aber, wenn es um prag­matische Fragen geht, Grundlage einer kontextgebundenen Alltagspraxis sind. Praktische Folgen von Geltungsansprüchen müs­sen also begrüßt oder abgelehnt werden können. Ist also das kommunikative Handeln, in dem nach Habermas Diskurs und Handeln geschichtet sind, auf Konsensbildung angelegt10, so müs­sen die für den praktischen Kontext relevanten Ansprüche explizit gemacht und diskutiert werden. Dem stehen auf pragmatischer Ebene die verzerrten Formen der Kommunikation gegenüber, die durch bewusst oder unbewusst ausgeblendete oder verdeckte Geltungsansprüche zustande kommen. In jedem praktischen Dis­kurs muss aber mit der Vermischung von Macht und Geltungsansprüchen gerech­net werden. Im idealen Diskurs hingegen werden diese ideologiekritisch auf ihre Legitimität geprüft. Dementsprechend ist die Dialektik von Wissen und Nicht­wissen eingebettet in die von gelingender und misslingender Verständigung.11 Habermas ist sich bewusst, dass man nicht von der faktischen Gegebenheit der pragmatischen Voraussetzungen für eine idealen Diskursgemeinschaft ausgehen kann. Aber jede gelungene Kommunikation zeugt quasi von der Möglichkeit einer idealen, nicht verzerrten Kommunikationssituation, ohne die Verständigung überhaupt nicht denkbar wäre. jede Kommunikation unterliegt ob­jektiven, sub­jektiven und situativen Beschränkungen und andererseits ist das Verständigungspotential bedingt durch die individuellen Kompetenzen der je­weils Beteiligten, die immer nur auf eigene Erfahrungen und Rationalisierungen zurückgreifen können. Die als Ressourcen fungierenden lebensweltlichen Kon­texte bilden in der subjektiven Überformung einen Komplex aus „Hinter­grund­an­nah­men, Solidaritäten und einsozialisierten Fertigkeiten“, die das „Gegengewicht gegen das Dissensrisiko der über die Geltungsansprüche laufen den Verständigungs­prozesse“12 bilden. Habermas begreift Sprache als das Me­dium, „das jeden Interaktionsteilnehmer als Angehörigen in eine Kommunikati­ons­ge­mein­schaft hineinzieht und dabei einem unnachsichtigen Individuierungs­zwang unterwirft. Zu den pragmatischen Voraussetzungen … gehört nämlich die Integration von Sprecher-, Hörer- und Beobachter­perspektiven wie auch die Ver­schränkung dieser Struktur mit einem System von Weltperspektiven, welche die objektive mit der sozialen und der subjektiven Welt koordiniert“13. Ein auf ver­ständigungsorientiertes Handeln bezogener Praxisbegriff verweist so auf die Möglichkeit einer Praxis, die durch ein diskursives Verhältnis zu Macht- und Geltungsansprüchen charakterisiert ist, und somit auch weltbildverändernde Er­weiterung von Wissen und Vorstellungen ermöglicht. So wie die gesellschaft­liche Praxis sprachlich koordiniert ist, müssen sich sprachlich erschlossenes Hintergrundwissen und die einsozialisierten Fähigkeiten praktisch bewähren. Und so „sind die sinnschöpferischen Innovationen mit den Lernprozessen … ver­schränkt, sind beide wiederum in den allgemeinen Strukturen verständigungsori­entierten Handelns so verankert, dass sich die Reproduktion einer Lebenswelt immer auch dank der Produktivität ihrer Angehörigen vollzieht“14. Damit scheint Habermas direkt, einzelne Individuen in sein Kon­zept einzubeziehen, doch dass diese zu den gesellschaftlich bedeutsamen Forma­tionen und Institutionen nicht unbedingt in einem konstruktiven Verhältnis ste­hen, ist genau das Ausgangsproblem. Zwar muss man, wie er es formuliert, „das kreative Moment der sprachlichen Konstitution der Welt mit dem kognitiv-in­strumentellen, den moralisch-praktischen und expressiven Momenten der inner­weltlichen Sprachfunktion von Darstellung, interpersonaler Beziehung und sub­jektivem Ausdruck“15 zusammendenken. Doch diese Momente haben sich in ein­zelne Sphären und Wissenssysteme ausdifferenziert, die sich um so weiter von der Alltagskommunikation abspalteten, und das ist der springende Punkt, „je strikter und einseitiger sie sich auf jeweils eine Sprachfunktion und einen Gel­tungsaspekt“16 einlassen. Das Problem der Stellung des Einzelindividuums hebt Habermas zunächst auf: einerseits, indem er dieses schon nicht mehr als ein me­taphysisch vereinsamtes, selbstreflexives Individuum begreift, sondern als eines, das in einen intersubjektiven Rahmen eingebaut ist. Hier bietet sich dann für ihn ein Anknüpfpunkt, das Problem weiter zu entschärfen, indem er andererseits für die einzelnen Individuen eine Alltagsöffentlichkeit bzw. eine Alltagskultur re­klamiert, die der Expertenkultur gegenübersteht. So werden die Reaktionen auf die Eingriffe, die sich aus den spezialisierten Sphären der Wissenschaft, Technik und Kultur ergeben, und die die alltäglichen und natürlichen lebensweltlichen Kontexte betreffen, nur in ihrer starken Form erfasst: den expressiven Gegenkul­turen oder den fundamentalistischen Gegenbewegungen. Diese Bewegungen zielen längerfristig auf die Veränderung der kommunikativen Strukturen, deren Störungen und Verzerrungen vom Einbruch spezialisierter Geltungsansprüche und deren konkreten Folgen in die alltäglichen lebensweltlichen Kontexten zeu­gen.

Mit den Begriffen der Lebenswelt und des kommunikativen Handelns führt Habermas Momente an, die nicht wie in der hegelmarxschen Tradition wieder in einer höheren Einheit aufgehen sollen.17 Die Reproduktion der Lebenswelt darf nicht als Kreisprozess verstanden werden, begriffen als Produktion aus eigenen Produkten, die gar mit Selbstverwirklichung in Verbindung gebracht wird.18 Damit würde der Verständigungsprozess wieder als Verdinglichung begriffen und die Lebenswelt würde zur Totalität einer höherstufigen gesellschaftlichen For­mation aufgespreizt werden. Vielmehr besteht die Differenz zwischen Lebens­welt und kommunikativen Handeln, die selbst in kooperativen Verständigungsprozessen nicht in einer Einheit aufgeht, sondern konkrete, individuelle Lebensformen und Lebensweltstrukturen auseinandertreten lässt. Die Differenz zwischen Beson­derem und Allgemeinem wird damit wieder eingeklagt: „sie sind nicht wieder von einer Supertotalität umfangen“.19 Die einheits­stiftenden Weltbilder sind zusammengeschrumpft „auf abstrakte Elemente wie Weltbegriffe, Kommunikationsvoraussetzungen, Argumentationsverfahren, ab­strakte Grundwerte“.20 Die Verständnis- und Verständigungsfähigkeiten der einzelnen Individuen ent­fernen sich immer mehr von den Inhalten kulturellen Wissens, mit dem sie ein­mal verbunden waren. Habermas gelangt zu folgenden Schlüssen: für die kul­turelle Reproduktion ergibt sich ein Zustand der Dauerrevision hinterfragbar ge­wordener Traditionen. Die Gesellschaft wird, wenn sie ihre Probleme konfliktfrei lösen will, abhängiger von diskursiven Verfahren der Norm- und Rechtsbegrün­dung. Die einzelnen Individuen geraten zunehmend in einen „Zustand der ris­kanten Selbststeuerung einer hoch­abstrakten Ich-Identität. Es entstehen struktu­relle Zwänge zur kritischen Auflösung von garantiertem Wissen, zur Setzung ge­neralisierter Werte und Normen und zur selbstgesteuerten Individuierung“21, die auf autonomeren Lebensentwürfen basiert. Habermas macht aus der Not eine Tu­gend: er geht vom Reflexivwerden der Kultur aus, einer Generalisierung von Normen und Werten, einer Steigerung des kritischen Bewusstseins, der autono­men Willensbildung wie auch der Individuierung. Er fasst den Typus einer Ra­tionalität ins Auge, der durch das umfassender werdende Netz sprachlich er­zeugter Intersubjektivität möglich geworden sei. Diese Vernetzung bedeute zugleich Differenzierung wie Verdichtung der Bestandteile, die Kultur, Gesell­schaft und Person zusammenhalten. „Die rationalisierte Lebenswelt sichert … die Kontinuität von Sinnzusammenhängen mit den diskontinuierlichen Mitteln der Kritik; wahrt den sozialintegrativen Zusammenhang mit den riskanten Mitteln des individualistisch vereinzelnden Universalis­mus, und sublimiert, mit Mitteln einer extrem individuierenden Vergesellschaftung, die überwältigende Macht des genealogischen Zusammenhangs zu einer fragilen, verletzbaren Allgemeinheit“22. Selbst die sich über Negationsprinzipien vollziehende Individuierung ist letztlich konstruktiv, da sie im Rahmen einer intersubjektiven Verständigung eingebaut bleibt. Im sozialen Bereich wirken die Prozesse diskursiver Willens­bildung einem Anarchismus entgegen, da sie „durch die gleichmäßige Berück­sichtigung der Interessen eines jeden Einzelnen die soziale Bindung aller mit al­len … sichern“23. In dieser Optik vollzieht sich die Vergesellschaftung in dem Maße als Individuierung, wie sich umgekehrt die Individuen gesellschaftlich konstituieren. Habermas ist bemüht der Krise der Moderne hoffnungsspendende und motivierende Momente abzugewinnen: die universalistischen Verfahren dis­kursiver Willensbildung sollen die Solidarität in lebensweltlichen Kontexten ver­festigen, die nicht mehr durch die Tradition legitimiert sind. Und die von starren Formen der Sozialisation befreite Vergesellschaftung soll sich verdichten und stabilisieren durch erweiterte Spielräume für Individuierung und Selbstverwirk­lichung24. Habermas setzt also gegen einen geschichtsphilosophisch abgeleiteten Begriff vernünftiger Praxis einen Begriff, der an sprachlicher Intersubjektivität orientiert ist und anhand der Rekonstruktion der Rationalisierungsprozesse in den verschiedenen lebensweltlichen Kontexten konkretisiert werden kann. Dahinter steckt nicht die Annahme, dass mit zunehmender Rationalisierung der Lebenswelt die Wahrscheinlichkeit für deren konfliktfreie Reproduktion wächst, lediglich „das Niveau verschiebt sich, auf dem die Konflikte auftreten können“25 und sich lösen lassen.

Die durch Ausdifferenzierung bedingten Pathologien moderner Gesellschaften laufen allein im Übergewicht der bürokratischen, kognitiv-instrumentellen For­men der Rationalität zusammen. Da moderne Gesellschaften nur noch das Profil einer einseitig ausgeschöpften Rationalität haben, können sie nicht sinnvoll als Großsubjekt der Geschichte betrachtet werden, das in einem selbstvermittelnden Kreisprozess steht. Das Freiwerden eines im kommunikativen Handeln angelegten Vernunftpotentials kann nicht als Selbstreflexion im Großen gedacht werden, quasi in Analogien zur Selbstreflexion des einsamen Erkenntnissubjekts.

Das System der kapitalistischen Wirtschaft bringt Im­perative hervor, die denen konkreter lebensweltlicher Kontexte unversöhnlich gegenüberstehen. Die expressiven und aktivistischen Reaktionen der verschie­denen lebensweltlichen Bereiche sind vorwiegend durch den systemischen Ei­gensinn und das Komplexitätswachstum des kapitalistischen Wirtschaftssystems und des gewaltmonopolisierenden Staates motiviert. Die Frage ist, ob die Kon­flikte, die sich zwischen systemischen und lebensweltlichen Imperativen ergeben, als Systemkrisen begriffen werden müssen, die sich systemimmanent lösen las­sen, oder ob die systemisch verursachten und als systemisch wahrgenommenen Krisen durch soziale Bewegungen aufgefangen werden können, die sich nicht mehr an einem immanenten Steuerungsbedarf des Systems orientieren, sondern an den Grenzverläufen zwischen System und Lebenswelt26. Eine sich selbst steuernde Gesellschaft braucht allerdings ein reflexives Zentrum27. Habermas glaubt nicht, dass man dies im Wirtschafts- und Staatsapparat ausmachen kann. Er besteht dagegen auf der Vorstellung einer umfassender werdenden Vernetzung der verschiedenen lebensweltlichen Kontexte und sogar der spezialisierten Handlungssysteme, solange sie nicht System­charakter gewinnen. Die verschie­denen Bereiche totalisieren sich, d.h. sie bilden universalistische Geltungsansprü­che aus, die gegeneinander abgearbeitet werden müssen, bis sie im Idealfall mit­einander verschmelzen. Diese Projektion bewahrheitet sich nach Habermas in dem Maße, in dem die konkurrierenden Mittelpunkte und Totalitätsentwürfe der einzelnen lebensweltlichen Kontexte und der spezialisierten Hand­lungssysteme in Konfliktsituationen geraten, also unter Kooperationszwängen stehen. Für Habermas Vorstellung einer umfassenden Vernetzung ist sein früh entwickelter Begriff der Öffentlichkeit von zentraler Bedeutung. Er versteht darunter alle Kommunikationsstrukturen und Mechanismen, durch die einzelnen Bereiche sich öffnen und wechselseitig durchdringen können. Kommunikationstechnologien, wie Buchdruck, Presse, Radio und Fernsehen, machen beliebige Äußerungen für verschiedene Kontexte zugänglich. So vernetzen sich im Idealfall die lokalen, überregionalen, wissenschaftlichen, politischen und kulturellen Öffentlichkeiten. Habermas hat sicherlich recht, wenn er behauptet, dass jede Teilöffentlichkeit auf eine umfassendere Öf­fentlichkeit hinweist. Denn sein Begriff von Öffentlichkeit hat unausge­sprochen einen aktivistischen Kern. Engagement und Bereitschaft zur Partizipa­tion sind die Voraussetzung einer sich vernetzenden Öffentlichkeit. Öffentlich­keiten entstehen erst dort, wo ihre potenziellen Träger ihre Möglichkeit erkennen, wahrnehmen und umsetzen. Sich vernetzende Öffentlichkeiten nehmen für Habermas dann auch den Platz des reflexiven Zentrums der Gesellschaft ein. Doch reicht die höherstufige Intersubjektivität sich vernetzender Öffentlichkeiten nicht für eine Einwirkung auf die Gesellschaft im Sinne einer Exekutivgewalt aus, zumal eine zentrale Steuerungsinstanz fehlt, die das Wissen und die Impulse der Öffentlichkeit aufnehmen und umsetzen könnte28. Nach Habermas ist auch der Staat nicht in der Lage, das intersubjektiv konstituierte Wissen der Gesell­schaft organisatorisch in eine Selbstbestimmung der Gesellschaft umzusetzen. „Politik ist heute tatsächlich Sache eines funktional ausdifferenzierten Teilsy­stems geworden; und dieses kann gegenüber den übrigen Teilsystemen nicht über das Maß an Autonomie verfügen, das für eine zentrale Steuerung, d.h. für eine von der Gesellschaft als Totalität ausgehende und auf diese zurückgehende Selbsteinwirkung erforderlich wäre“29. Zwischen intersubjektiver Verständigung und gesellschaftlicher Selbstorganisation besteht ein asymmetrisches Verhältnis. Die Erwartung, dass die Gesellschaft politisch-administrativ die zerstörerischen Nebenfolgen des krisenhaften Wachstums eindämmen kann, ist enttäuscht wor­den. Fortschritt scheint sich allein in der Ablösung handfester materieller Aus­beutung durch sublimiere Formen einer zergliederten und kontrollierten Lebens­welt zu vollziehen. Doch die Abwälzung verinnerlichter sozialer Konflikte auf das Psychische und Körperliche ist nicht weniger destruktiv. Als Fortschritt könnte schon gelten, wenn das öffentliche Bewusstsein den Stand erreicht hätte, den Habermas für erreicht hält: selbst das politische System werde von der politi­schen Öffentlichkeit immer weniger als Mittel der Problemlösung gesehen, son­dern vielmehr als Quelle von Steuerungsproblemen. Und die Empfindung, das Sozialstaatprojekt sei gescheitert, hält er schon für allgemein. Daraus ergibt sich der Blick auf die Zähmung der Wirtschaft und des Staates selbst. Zwar sind neue Subsysteme mit neuen Steuerungskapazitäten und Problemlösungsstrategien denkbar, doch Habermas ist sich bewusst, dass in einer machtgebundenen Form der Institutionalisierung niemals eine Synchronisation mit den Krisenerfahrungen der Lebenswelt herstellbar ist. Lebensweltliche Krisenerfahrungen lassen sich nicht ohne Rest in Steuerungsprobleme übersetzen, die systematisch angegangen werden können. So geht es Habermas um den Abbau von „Hemmschwellen im Austausch zwischen Lebenswelt und System“30. „Der systemische Bann, den der kapitalistische Arbeitsmarkt über die Lebensgeschichte der Arbeitsfähigen, den das Netz leistender, regulierender und überwachender Behörden über die Lebens­form der Klienten, den der autonom gewordene nukleare Rüstungswettlauf über die Lebenserwartung der Völker verhängt, wird nicht dadurch gebrochen, dass die Systeme lernen, besser zu funktionieren. Vielmehr müssen Impulse aus der Le­benswelt in die Selbststeuerung der Funktionssysteme einfließen können … Die sozialintegrative Gewalt der Solidarität müsste sich gegen die systemintegrativen Steuerungsmedien Geld und Macht behaupten können“31. Hemmschwellen- und Sensorenfunktion können nach Habermas nur die Öffentlichkeitsbereiche über­nehmen, die vom System nicht zum Zwecke der Legitimationsbeschaffung un­terhalten und erzeugt werden.32 Damit votiert für die aus der Alltagspraxis entstehenden Zentren verdichteter Kommuni­kation, die in dem Maße eine relative politische Autonomie erlangen, in dem sie „das le­bensweltliche Potential zur Selbstorganisation und zum selbstorganisierten Ge­brauch von Kommunikationsmitteln“33 nutzen. Eine gewisse Schwelle zur Institutionalisierung dürfe dabei nicht überschritten werden, da sich sonst die Ziele der Organisation von denen der Mitglieder lösen und diese so in „Abhängigkeit von Imperativen der Erhaltung und Erweiterung des Organisati­ons­be­standes geraten“34. „Selbstorganisierte Öffentlichkeiten müssten die kluge Kombination von Macht und intelligenter Selbstbeschränkung entwickeln, die er­forderlich ist, um die Selbststeuerungsmechanismen von Staat und Wirtschaft gegenüber den zweckorientierten Ergebnissen radikaldemokratischer Willensbil­dung zu sensibilisieren. An die Stelle des Modells der Selbst­ein­wirkung der Ge­sellschaft tritt damit das Modell eines von der Lebenswelt unter Kontrolle gehal­tenen Grenzkonflikts zwischen ihr und den beiden an Komplexität überlegenen, nur sehr indirekt beeinflussbaren Subsystemen, auf deren Leistungen sie gleich­wohl angewiesen ist“35. Nimmt man aber den Idealfall einer umfassenden Vernetzung verschiedener autonomer Öffentlichkeiten an, so lässt sich nach Habermas wieder von einem gesamtgesell­schaftlichen Bewusstsein sprechen, das aber nicht den wissenschaftlichen oder philosophischen Präzisionsanforderungen genügt, sondern im Gegenteil in sich diffus und kontrovers sein kann. So soll der Gesellschaft möglich sein, normativ von sich selbst Abstand zu nehmen und auf Krisenwahrnehmungen zu reagieren.

Dass die Subjektivität das Prinzip der Moderne sei, hat Hegel auf den Begriff ge­bracht, dass intersubjektive Verständigung ihr Vollzugsmodus ist, kann als selbstverständlich gelten. Doch wo Intersubjektivität nicht mehr auf der Möglichkeit einer unmittelbaren Kommunikation zwischen Individuen basiert, kann nicht mehr sinnvoll von ihr gesprochen werden. Intersubjektive Verständigung wird so nicht den Systemen Macht und Geld bzw. Politik und Wirtschaft untergeordnet, sie ist einfach nicht deren charakteristischer Verständi­gungsmodus. Der Begriff der instrumentellen bzw. zweckrationalen Rationalität kommt nicht ohne den Begriff des Zwecks aus. In ihm wird immer schon die Abgrenzbarkeit eines Zwecks vorausgesetzt. Damit drängt sich gegen eine Ausgren­zung des Begriffes zweckrationaler Rationalität der Einwand auf, dass auch der verständigungsorientierten Kommunikation oder Rationalität ein Zweck zugrunde liegen, der Zweck der Verständigung. Im weiteren Sinne der Zweck der Sicherung des Fortbestehens einer legitimen gesellschaftlichen Ordnung. Die Krisentheorie der Moderne the­matisiert gerade die Bedrohung dieses „komplexen Zweckes“. Ihn mit all seinen globalen Implikationen zu bemessen, ist eine nicht nur empirische Angelegen­heit, auf die sich jede gesellschaftskritische Theorie einlassen muss, wenn sie mehr als theoretische Rekonstruktion sein will, und realistische Möglichkei­ten einer engagierten gesellschaftlichen Praxis aufzeigen möchte. Allerdings scheint jedes Plädoyer für ein Engagement, d.h. z.B. mit Habermas für eine Au­tonomisierung von Öffentlichkeiten, unter der Schwäche zu leiden, dem Zeit­druck der Moderne nicht gerecht zu werden können, der im Krisenszenarium der Postmoderne seinen Ausdruck findet. In ihr scheinen die desillu­sionierenden Züge der älteren Kritischen Theorie weiter gezeichnet zu werden. Das Votum für eine Demokratisierung der Basis nimmt sich dagegen konstruktiv aus, doch ist unklar, was solche Prozesse noch bewirken können, ob sie gegen die Entscheidungsgewalt und die Macht von Wirtschaft und Politik ankommen kön­nen. Habermas sieht, dass Subbewegungen „selten den Spielraum ei­ner effektiven Teilnahme an politischen Entscheidungen erweitern“36, „sie lau­fen unterhalb der Schwelle politischer Entscheidungsprozesse ab: sie nehmen aber indirekt Einfluss auf das politische System, weil sie den normativen Rahmen der politischen Entscheidungen verändern“37, „ihre eigentümliche Leistung besteht … darin, dass sie die Interpretation öffentlich anerkannter Bedürfnisse verändern“38. Ob mit solchen Hemmschwellen, die auf die Verschmelzung der Imperative der verschiedenen Bereiche hinauslaufen sollen, dem Zeitdruck begegnet werden kann, der sich aus der Krisendynamik ergibt, ist nicht absehbar. Es leuchtet nicht unmittelbar ein, warum die zentrale Kategorie die des kommunikativen Handelns oder der ver­stän­digungs­orientierten Vernunft sein soll. Eine Krisentheorie könnte genauso gut mit dem Antihumanismus des instrumentellen Rationalitätstypus rechnen, d.h. damit rechnen, dass die Machtformationen in Wirtschaft und Politik sich, so wie sie sich nicht auf Dauer durch eine totale Vergesellschaftung ihre Legitimation entziehen können, auch nicht die Voraussetzungen der Kontinuität ihrer Herrschaft entziehen, also den minimalen Fortbestand eines intakten Öko­systems, der Wirtschaft- und Gesellschaftsformationen „sichern“. D.h. die Ge­biete sichern, in die sie expandieren oder die sie kolonialisieren.

Eine Minimaleinschätzung der Entwicklung von der Früh­zeit bis zur Moderne könnte sich gänzlich der suggestiven Begriffe der Geschichts- und Gesellschafts­theorie enthalten und davon ausgehen, dass aus der Rationalität der Gesellschafts­formationen niemals das Sonntagsgewand einer einheitlichen Vernunft gewebt wurde, diese also niemals zu einer historischen Verkörperung gelangte außer im philosophischen Ideal. Von Kants Definitionen zur Vernunft (Vermögen Ideen zu haben, Vermögen der Prinzipien, Vermögen theoretische Prinzipien aufzustellen, Vermögen nach Prinzipien zu handeln und Vermögen logisch zu schließen) ha­ben sich fast ausschließlich die letzteren praktisch zur instrumentellen, machtge­bundenen und gesellschaftlich folgenreichen Zweckrationalität entpuppt. Bleibt zu hoffen, dass der in ihr begründete Antihumanismus sich nicht seine eigenen Voraussetzungen entzieht, und dass der drohende Selbst­lauf eines unserer Systeme nicht zum globalen Spießrutenlauf wird.

 

Nachweise

1 Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, 1968, S. 98.

2 Jürgen Habermas / Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozial­technologie- Was leistet die Systemforschung? 1971, S. 265f.

3 a.a.O.

4 Ebda., S. 354.

5 Ebda., S. 354f.

6 Ebda., S. 357.

7 Ebda., S. 362f.

8 Ebda., S. 366.

9 Ebda., S. 374.

10 Ebda., vgl. S. 375.

11 Ebda., S. 377.

12 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 1985, S. 379.

13 Ebda., S. 388.

14 Ebda., S. 389.

15 Ebda., S. 393.

16 a.a.O.

17 Ebda., S. 396.

18 Ebda., S. 397.

19 a.a.O.

20 Ebda. S. 399.

21 Ebda., S. 400.

22 Ebda., S. 400f.

23 Ebda., S. 402.

24 Ebda., vgl. S. 402.

25 Ebda., S. 403.

26 Ebda., vgl. S. 414.

27 Ebda., vgl. S. 415.

28 Ebda., vgl. S. 418.

29 Ebda., S. 418.

30 Ebda., S. 422.

31 a.a.O.

32 a.a.O.

33 Ebda., S. 422f.

34 Ebda., S. 423.

35 a.a.O.

36 Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1976, S. 166.

37 Ebda., S. 117.

38 Ebda., S. 116f.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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