Die Medien und das Machbare

Dirk de Pol, 8. Januar 2019

Kultur, Mentale Gesundheit

Wer könnte mehr berufen sein als die Experten der Verwertung immer kurzlebigerer Trends, wenn nicht Zukunft, dann doch eine Konferenz, die sie bedenkt, auszurichten? So ist es in der Kasseler documenta-Halle vom 26.-27. September geschehen. Das Trendbüro Hamburg, 1992 von Matthias Horx und dem Kommunikationsprofessor Peter Wippermann gegründet, hat mit tatkräftiger Unterstützung der Kabel New Media und der gleichfalls von Wippermann mitbegründeten Kabel Hamburg GmbH die “future conference” “Millennium” veranstaltet.

Gemahnt durch Ministerpräsident Hans Eichels Eröffnungsworte: “Der Zug ist in voller Fahrt, aber die Folgen dessen, was wir da machen, wo der Zug wirklich hinfährt, wissen wir bis heute nicht”, beschäftigten sich rund 200 Teilnehmer und Referenten mit der ökonomischen, politischen, aber auch sozialen Bedeutung der neuen Medien- und Computertechnologien. Den künstlerischen Auftakt bot Laurie Andersen. Im Zwiegespräch der Amerikanerin mit ihrem elektronisch verfremdeten alter ego zerfloß die Grenze zwischen realer und phantasierter Welt, zwischen Mensch und seiner technischen Spiegelung. Doch trotzdem die Multimedia-Künstlerin mit einem Technikpark von 10 Computern, einigen Synthesizern und Audio-Videosystemen arbeitet, warnt sie ausdrücklich davor, die bestehende Medienlandschaft und ihre neuen Techniken unkritisch zu benutzen. Anstatt nur passiv rezipierbare Ablenkung zu bieten, sollen die Medien dem Menschen helfen seine Persönlichkeit und Kreativität zu entwickeln.

Eine Mensch-Maschine-Synthese der anderen Art präsentierte der Norweger Stahl Stenslie, der den Raum der uns schon bekannten aktustisch-visuellen Telekommunikation multisensorisch übersteigen möchte. Seine Show CYBER-SM demonstrierte dabei nicht nur das bisher Machbare, sondern auch dass er ein guter Marketingstratege ist. Das während der Vorführung noch zivilisiert erregte Publikum durfte am Ende derselben schon hemmungsloser auch intimere Bereiche der Cyber-Sklavin und ihres Herrn ertasten, was nicht ohne Schock abging, wenn auch bloß aus Schwachstrom. Immerhin: die im nordischen Norwegen weniger verklemmte Telekom hat erkannt, das er Grundlagenforschung leistet. Sie finanziert sein neues Projekt für ein massentaugliches multisensorisches Kommunikationssystem.

Laurie Andersen, die Stenslies Darbietung beiwohnte, kommentierte diese trocken mit einem Orakelspruch auf deutsch, mit dem auch jene angesprochen waren, die sich auf der Konferenz mit einem anderen heißen Thema beschäftigten, nämlich dem vor der Einführung ins Internet stehendem digitalen Bargeld und seiner Sicherheit: “Geld ist privat und emotional. Sex ist öffentlich und technologisch.” Noch eindrucksvoller war allerdings das zweifelsohne dichteste Bild der gesamten Konferenz, das Andersen am Ende ihrer Vorstellung bot. Mit einer Minibox, einem Pillowspeaker in ihrem Mund, aus dem das Kabel hing wie die Angelschnur aus dem Maul des Fisches, war sie nur noch Resonanzkörper maschineller Töne, die sie allein durch verzweifelte Grimassen modulierte. Geburts- oder Todesschreie der vollständig angeketteten Kreatur?

Jedenfalls eine der vielen möglichen Realitäten, deren Maßstab verloren gegangen zu sein scheint, wenn man den Referenten der Diskussionsgruppe “Wieviel Cyberspace kann ein Mensch vertragen?” glaubt. Der Kommunikationstheoretiker Prof. Norbert Bolz etwa erklärt uns: “das, von dem wir glauben, es ist unser heiligstes Inneres, unsere Seele, ist längst draußen, technisch implementierbar, bewohnbar in einer Medienwelt.” Das hört sich an wie ein Kommentar zu Laurie Andersens Vorstellung, ist aber vor allem marketingfähige Philosophie nach dem Motto: Was sein kann, soll auch sein. Damit kein Zweifel aufkommt, dass das gerade auch für Medien gilt, kleidet Bolz diese in ein evolutionäres Bild. Er spricht von einer “unwiderstehlichen Medienevolution”: “Die Medien entfalten sich quasi naturgesetzlich, es gibt keine Option auszusteigen aus dieser Entwicklung.” Die Verunsicherung darüber, ob solche Erklärungen das qualitative Neue der neuen Techniken und deren möglicherweise unkontrollierbaren und negativen Folgen nivillieren sollen, wurde nicht geringer, als auch der Psychotherapeut Prof. Fritz Simon eine verwandte Formel prägte: “Es gibt keine reale Realität.” Dies ist ein wichtiger Berührungspunkt der wilden Medientheorie mit dem Radikalen Konstruktivismus. Für Bolz sind Medien ein Apriori unser Existenz. Neue Medien würden sich von den alten lediglich durch ihre Penetranz unterscheiden. Ein anderer Experte für Aprioritätsphilosophie hat Raum und Zeit für die Bedingung nicht unser Existenz, sondern unserer Erkenntnis gehalten. Kant jedoch wäre nie auf die Idee gekommen,die Wahrnehmung, die unser Gehirn durch die Synthese aussenweltlicher Einflüsse synthetisiert und in diesem Sinne anders konstruiert als bei einem Affen, im gleichen Sinne als Konstruktion zu bezeichnen wie vielleicht ein politisch gefärbten Zeitungsartikel. Im ersten Fall handelt es sich um einen automatischen Prozess, dessen Simulation selbst Supercomputer in absehbarer Zeit überfordert, und der durch die Einnahme von Drogen nur höchst unvorhersehbar beeinflusst werden kann. Im zweiten Fall handelt es sich um eine Konstruktion im eigentlich Sinne, denn ihr Träger ist nicht ein automatisch arbeitendes Gehirn oder Zentralnervensystem, sondern ein Mensch.

Gegen eine schleichende Nivellierung unseres Realitätsbegriffes, wie von der jüngeren Medientheorie und manchen Vertretern des Radikalen Konstruktivismus betrieben wird, wurde in Kassel ganz pragmatisch Einwand erhoben. Als verlässlichen Maßstab im Wirrwarr der sich medial multiplizierenden Realitäten begriff Dr. Wolfgang Adamczak von der Universität Kassel nicht nur die physische Welt, sondern auch den direkten zwischenmenschlichen Kontakt, ohne den es nicht gehe. Andernfalls hätte man die Millennium-Tage ja auch per Videokonferenz durchführen können. Weiter gab er zu bedenken, der Unterschied zwischen einem virtuellen und realen Bier sei doch erheblich. Das wurde von Matthias Horx bestätigt. Schließlich lasse sich virtuelles Bier auch schlechter als reales verkaufen. Aber immerhin – so der Trendfachmann -, erhöhe das Virtuelle den Durst nach dem Realen. Derart waren die Zugeständnisse an die auch vertretenen Skeptiker der Neuen Medien höchstens marketingtheoretischer Natur.

Kaum zu übersehen war, dass nicht die amerikanischen Referenten einen millenaristischen, sprich fröhlichen und technophilen Optimistismus predigten, sondern die marketingbeflissenen deutschen Kollegen. In der Diskussionsgruppe “Wie verdient man Geld in den Netzen” durfte nicht nur die Kabel New Media GmbH, sondern auch Bertelsmann und die Deutsche Bank unter der Moderation der FOCUS Wirtschaftsredakteurin Eva Müller alles über Geld, Werbung und Dienstleistungen in der Computerwelt präsentieren. Unter den Amerikanern dagegen macht sich schon Ernüchterung, der Computer Backlash, breit. Ob Laurie Andersen, die sich darüber wundert, wie selbstverständlich die Deutschen anscheinend die Öffentlichkeit, Käuflichkeit und Technizität des Privatesten, was wir hatten, des Körpers, akzeptieren, oder Bill Henderson, der traditionsbewusste Präsident des Lead Pencil Clubs, dessen Motto lautet: “Not so fast!”, das Lager der Skeptiker wächst. Der Technik-Kolumnist der Newsweek, Steven Levy, sieht gar eine E-money- und Sicherheitsapokalypse auf uns zu kommen. Ohne automatische Sicherheitsroutinen in unsere Informationssystemen, sei Datensicherheit nicht möglich, denn die Praxis zeige, dass die Sicherheit vernachlässigt werde, wenn sich die Nutzer aktiv um sie kümmern müssen. Einigkeit herrscht unter den Skeptikern darüber, dass der starke politische Einfluß, den das Internet bereits heute habe, noch wachsen werde. Minderheiten werden sich über nationalstaatliche Grenzen hinweg immer effizienter und schneller zu einer politischen Kraft formieren können. Und wenn erst der internationale Transfer von digitalem Bargeld, das bald eingeführt werden soll, zum Alltag gehöre, werde sich die Kontrolle über Geldmengen und Geldfluß erheblich erschweren, was eine Bedrohung der Zentralbanken und Regierungen bedeute. Daß nicht nur die amerikanische Regierung, vor allem im Zusammenhang mit dem rechten Terror und dem Problem des Handels mit Kinderpornographie im Internet, bestrebt ist, ein Monopol für Verschlüsselungtechniken zu erreichen, bemerkte der Informatiker Prof. Wolfgang Coy. Auch die EU arbeite auf Vorstoß Frankreichs hin an einer Richtlinie, die das Recht auf Datenverschlüsselung beschneidet. Eine öffentliche Diskussion darüber wird noch stattfinden müssen. In Kassel dominierte jedenfalls die Frage nach dem technisch Machbaren und Zumutbaren. Nach dem Wünschenswerten zu fragen, hat niemand mehr gewagt. Wohin auch immer, der Medienzug rollt genau auf uns zu.

Zuerst erschienen 1995  in  Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte

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DAS SPIEL, BEI DEM ALLES AUF DEN TISCH KOMMT …

… und nichts unterm Teppich bleibt.

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